Wie können Computer den Lernprozess unterstützen? Wir denken dabei vielleicht zunächst an die Beschaffung von Informationen aus dem Internet oder das automatische Korrigieren von Multiple-Choice-Quizes. Die HPI Schul-Cloud unterstützt jedoch auch ein ganz anderes Konzept. Eines ohne absolute Wahrheiten und Punktzahlen für richtige und falsche Antworten: das dialogische Lernen.

Diese Serie beschäftigt sich mit didaktischen Konzepten für den Unterricht. Diese dienen allgemein als Anregung für Lehrende und versuchen insbesondere die digitale Transformation von klassischen Unterrichtsmodellen anzutreiben. Das Aufzeigen von konkreten Fällen verdeutlicht dabei den Mehrwert der HPI Schul-Cloud.

Die Theorie dahinter und die Rolle der HPI Schul-Cloud soll hier an einem konkreten Beispiel verdeutlicht werden. Und zwar an Goethes Werk "Die Leiden des jungen Werther". Dazu sollen die Schülerinnen und Schüler (SuS) Kurznachrichten in Jugendsprache entwickeln, die die Briefe des Werthers in ihre eigene Lebensrealität transferieren.

Beim dialogischen Lernen wird zwischen Lerngegenstand und den erworbenen Kompetenzen ein Rahmenwerk gebaut, das durch die Perspektiven "ich", "du" und "wir" strukturiert wird. Dem eigenen Gedanken (ich) folgt der Gedanke des anderen (du) und abschließend ein gemeinsamer Beschluss über die gelernte Idee (wir). Das dialogische Lernen erfolgt in den folgenden vier Phasen.

1. Kernidee

Die Lehrkraft präsentiert ihre eigene Sichtweise auf den Gegenstand. Es geht um ihre Faszination am Stoff und die Herausforderungen, die sie persönlich sieht. Im Beispiel des Werthers könnte es so aussehen:

Ich finde es schwierig, wenn man sich häufig mit anderen Menschen vergleicht. Wenn man dabei schlechter abschneidet als die anderen, dann fühlt man sich nicht gut. Der Werther sieht dieses Problem ebenfalls. Die Flucht in die Einsamkeit hilft ihm allerdings nicht gegen dieses Problem. Dabei vergleicht er sich mit perfekten Helden in seinem Kopf, die niemand sein kann. Die Einsamkeit ist somit auch keine Option für mich.

Durch diese persönliche Perspektive wird nicht nur das Interesse geweckt, sondern die Lektüre erhält ebenfalls Relevanz für das Leben der SuS.

2. Offene Aufträge

Nach der Einführung sollen auch die SuS produzierend aktiv werden. Das "du" wird also aktiviert. Es sollen fachliche Produkte entstehen, bei denen die SuS ihre eigenen Fähigkeiten und Interessen einbinden können. Dieser Auftrag ist in unserem Beispiel das Verfassen von Instant-Messenging-Nachrichten, die einen beliebigen Brief von Werther in Alltagssprache übersetzen. Lernende mit einer Vorliebe für Sprache werden in der Formulierung der Sätze aufgehen, analytisch begabte werden lieber versteckte Aspekte in den Texten suchen und wieder andere suchen sich besondere Emojis für ihre Nachricht heraus. Der Brief vom 17. Mai könnte beispielsweise so übersetzt werden:

Hey :s Ich find nie wieder eine wie sie... Mit ihr konnte ich über alles reden und sie hat mich immer verstanden ? Mit den Menschen hier kann ich über nix reden ? Nur zwei habe ich getroffen die ähnliche Interessen hatten aber es sind eben nur zwei

3. Lerntagebuch

Der individuelle Lernweg wird in einem Journal festgehalten. Das Tagebuch hebt hervor, dass nicht das Ergebnis im Vordergrund steht, sondern der Weg dahin genau so wichtig ist. Es schafft also Transparenz über das Lernen. Die SuS arbeiten fokussierter auf ihr Ziel hin, wenn sie ihren Weg dahin protokollieren. Im Idealfall fließen die Lerntagebücher in die Bewertung ein. Somit wird auch Anstrengung entlohnt. Außerdem bieten die Journale die Grundlage für das gegenseitige Verständnis der Produkte. In ihnen wird auch festgehalten, wer welche Informationen in einer Gruppenarbeit beigetragen hat. Für das Beispiel kann im Journal festgehalten werden, welche Gedanken man beim Lesen der Lektüre hatte, welche Begriffe man eventuell recherchiert hat und warum man etwas bemerkenswert findet. Wieder am Beispiel des 17.-Mai-Briefes ein möglicher Journal-Eintrag:

Der Brief erschien mir zunächst nur negativ. Dann hat mich aber Paul auf die positive Bekanntschaft mit den zwei anderen Figuren hingewiesen und ich habe meinen Text überarbeitet.

4. Rückmeldung und Austausch

Zu diesem Schritt gehören zwei Komponenten. Zum einen sichtet die Lehrperson die Produkte und zum anderen stellen sich die SuS gegenseitig ihre Nachrichten vor. Die Sichtung durch die Lehrperson ist keine Korrektur, sondern auch Teil des Dialoges. Sie versucht zu verstehen, wie die SuS zu ihren Produkten gekommen sind und schätzt kreative Ideen und das Einbringen von Vorwissen wert. Hier ein abschließendes Beispiel zu einer möglichen Anmerkung durch die Lehrkraft:

Ich kann deine Sichtweise auf den Brief gut nachvollziehen. Besonders interessant finde ich deinen Umgang mit der Erwähnung des gebildeten Jünglings. Du könntest noch weiter auf die Wahrnehmung durch Werther eingehen. Obwohl Satzzeichen in den meisten Kurznachrichten eine Rarität sind, würde ich mich freuen, wenn du mir die Lesbarkeit deines letzten Satzes damit erhöhen könntest! Deinen gut dosierten Einsatz von Smileys finde ich super.

Besonders gelungene Produkte werden der ganzen Klasse präsentiert und zur Diskussion gestellt. Auf der anderen Seite tauschen sich auch die Schüler in Zweier-Dialogen oder Kleingruppen über alle ihrer Produkte aus. Diese sollen dabei auch weiter geschliffen werden und nicht als endgültiges Resultat dastehen. Schließlich wird ein Konsens vereinbart über das gemeinsame Lernergebnis. Damit ist der Dreischritt zum wir abgeschlossen.

Vorteile der HPI Schul-Cloud

Der Prozess lässt sich mit der HPI Schul-Cloud gut unterstützen. Zunächst können alle SuS unkompliziert Zugriff auf eine Lektüre oder andere Medienbasis erhalten. Aufgrund des mehr als 70 Jahre zurückliegenden Todes des Autors frei verfügbare Texte sind häufig bereits im Netz vorhanden. So kann die Lehrkraft auch mit mehr als ein oder zwei klassischen Lektüren arbeiten, da die SuS dafür nicht mehr zwangsläufig in die Bibliothek müssen. Und gerade wenn die Lehrperson Multimedia-Inhalte behandeln möchte, die schlichtweg nicht in Papierform vorliegen können, trägt das individuelle Konsumieren der Medien auf dem eigenen Gerät der eigenen Lerngeschwindigkeit Rechnung. Die Materialien sind dann auch problemlos für die Hausarbeit außerhalb der Schule abzurufen. Dabei bietet die HPI Schul-Cloud nicht nur den permanenten Abruf von Medien an, sondern fördert auch die Zusammenarbeit der SuS. Dadurch dass die Klassenstrukturen dort abgebildet sind, kann beispielsweise ein Produkt einfach mit mehreren Kameradinnen und Kameraden geteilt werden. Am nächsten Tag kann sich dann in der Schule darüber ausgetauscht werden oder es werden direkt Kommentare in der HPI Schul-Cloud zu den Produkten verfasst. Somit erhalten alle mehr Feedback aus dem Klassenraum.

Die HPI Schul-Cloud möchte nicht den traditionellen Klassenraum abschaffen. Es geht darum, mehr als nur alle Bücher und Texte in digitaler Form bereitzustellen. Die außerhalb der Schule vorhandene digitale Lebensrealität junger Menschen kann den Unterricht bereichern. Dies beginnt nur bei der Verwendung von Emojis in Texten. Mit der HPI Schul-Cloud wird niemand zur Nutzung von WhatsApp oder anderen Messenger-Diensten gezwungen. Die HPI Schul-Cloud ermöglicht im weiteren Sinne eine Hypermedialität und fördert die kreative Gestaltung von Produkten. Der Einsatz von digitalen Medien in der Schule bereitet die SuS auf ihre Zukunft vor und ermöglicht einen reflektierten Umgang mit ihnen.

Das dialogische Lernen im didaktischen Diskurs

Beim dialogischen Lernen wird die traditionelle Rollenverteilung des aktiv Wissen emittierenden Lehrenden und des passiv rezipierenden Lernenden aufgebrochen. Der Lernende erhält eine Autonomie in seinem Lernprozess und wird motiviert Verantwortung zu übernehmen. Das dialogische Lernen erhöht die soziale Eingebundenheit durch die Interaktion und Kommunikation zwischen den Lernenden. Außerdem findet man bei diesem Lernprinzip eine hohe Prozessorientierung, die im Unterricht häufig unterschätzt wird. Das Ankündigen von Lernzielen ist nicht der Normalfall in den Schulen. Dass der Lernweg dorthin dokumentiert wird, ist eine Seltenheit.

Hervorzuheben ist ebenfalls die Motivation durch positive Verstärkung. Psychologisch gesehen wird hierbei kein Zwang ausgeübt durch das Tadeln von Falschem, was zum Unterlassen von Fehlern führen soll (negative Verstärkung), sondern Stärken werden besonders gelobt, um einen Anreiz zu schaffen, diese auszubauen (positive Verstärkung). Die Adjektive positiv und negativ sind hierbei nicht wertend, sondern beschreiben nur, ob es sich um die Darbietung eines Verhaltens für das Auftreten einer Belohnung (positiv) oder um das Unterlassen mit der Konsequenz eines Strafreizes (negativ) handelt. Für Lehrkräfte kann es allerdings angenehmer sein, Belohnungen als Strafen oder Androhungen auszusprechen.

Fazit

Das dialogische Lernen ist ein motivationsförderndes Lernprinzip, dessen Prozess mit der HPI Schul-Cloud durch Kollaboration vereinfacht und dessen Vielfalt der fachlichen Produkte durch die Hypermedialität erhöht wird. Es eignet sich nicht nur für Sprachen und Gesellschaftswissenschaften, sondern auch für Mathematik und Naturwissenschaften, da durch den Dialog das Verständnis erheblich gefördert wird. Das Team der HPI Schul-Cloud freut sich über Feedback zur Anwendbarkeit dieses Prinzips.

Quellen und weiterführendes Material